Deprivationssyndrom beim Hund: Wenn die Welt zu klein war
Hunde kommen mit einem natürlichen Bedürfnis nach Bindung und positiven Beziehungen auf die Welt. Diese Bindung ist entscheidend für das Wohlbefinden und die gesunde Entwicklung eines Hundes. Doch was passiert, wenn dieses Bedürfnis während der Welpen- und Junghundezeit nicht erfüllt wird? Wenn ein Hund zu wenig erlebt, zu wenig lernt und zu wenig positive soziale Interaktionen erfährt, kann dies zu einem Deprivationssyndrom führen.
Was ist Deprivation?
Deprivation bedeutet „Mangel“ und beschreibt den Zustand, in dem ein Lebewesen nicht ausreichend mit wichtigen Reizen und Erfahrungen versorgt wird. Bei Hunden äußert sich dies häufig darin, dass sie in ihrer frühen Entwicklungsphase nicht genügend Möglichkeiten hatten, ihre Umwelt zu erkunden, ihre motorischen und kognitiven Fähigkeiten zu entwickeln und stabile, soziale Beziehungen aufzubauen.
Ein Deprivationssyndrom ist zwar nicht heilbar, aber veränderbar und verbesserbar. Das Gehirn bleibt lebenslang lernfähig, sodass auch ein Hund mit Deprivationssyndrom noch lernen und sich weiterentwickeln kann. Es ist jedoch wichtig, die besonderen Bedürfnisse dieser Hunde zu verstehen und ihnen die passende Unterstützung zu bieten.
Ursachen eines Deprivationssyndroms
Die Ursachen für ein Deprivationssyndrom liegen meist in der frühen Entwicklungsphase eines Hundes.
Typische Beispiele sind:
- Aufzucht in Zwingerhaltung: Welpen, die in Zwingern oder reizarmen Umgebungen aufwachsen, haben oft nur begrenzten Kontakt zu Artgenossen und Menschen. Sie lernen nicht, mit verschiedenen Reizen umzugehen und ihre Umwelt zu erkunden.
- Vermehrerhunde: Welpen aus Massenzuchtstätten werden häufig unter schlechten Bedingungen gehalten und erhalten keinen ausreichenden Kontakt zu Menschen.
- Isolation: Hunde, die längere Zeit isoliert gehalten werden, etwa in einer kleinen Box oder einem Zimmer, entwickeln oft ebenfalls ein Deprivationssyndrom.
Anzeichen eines Deprivationssyndroms
Die Symptome eines Deprivationssyndroms können je nach Hund unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Zu den häufigsten Anzeichen gehören:
- Angst und Unsicherheit: Hunde mit Deprivationssyndrom sind oft ängstlich und unsicher, besonders in neuen Situationen und gegenüber unbekannten Menschen oder Hunden.
- Übermäßige Anhänglichkeit: Manche Hunde klammern sich übermäßig an ihre Bezugsperson und zeigen Trennungsangst.
- Geräuschangst und Phobien: Deprivierte Hunde entwickeln oft Geräuschangst und andere Phobien.
- Hyperaktivität und Impulskontrollstörungen: Einige Hunde zeigen hyperaktives Verhalten, sind schwer zu kontrollieren und können sich nicht gut konzentrieren.
- Stereotypien: Hunde mit Deprivationssyndrom wiederholen oft stereotype Verhaltensweisen wie im Kreis drehen, Schwanzjagen oder unaufhörliches Bellen.
- Aggression: In einigen Fällen äußert sich die Angst des Hundes auch in aggressivem Verhalten.
Was braucht ein Hund mit Deprivationssyndrom?
Hunde mit Deprivationssyndrom benötigen vor allem Geduld, Verständnis und eine sichere, stabile Umgebung. Für die Menschen, die mit einem solchen Hund leben, ist es wichtig, den Ist-Zustand des Hundes zu akzeptieren und sich darauf einzustellen. Diese Akzeptanz bildet die Grundlage für die positive Veränderung.
So kannst du deinen Hund unterstützen:
- Zeit zum Ankommen: Gib dem Hund Zeit, sich an seine neue Umgebung und die neuen Menschen zu gewöhnen.
- Routine und Vorhersehbarkeit: Ein strukturierter Tagesablauf mit festen Ritualen und festen Orten für Fressen, Schlafen und Spielen gibt dem Hund Sicherheit.
- Positive Beziehungsgestaltung: Baue eine liebevolle und vertrauensvolle Beziehung auf. Verwende das Konzept „Face-Voice-Touch“ – ein weiches Gesicht, eine einladende Stimme und vorsichtige Berührungen, die der Hund mag.
- Angepasste Beschäftigung: Fördere den Hund durch geeignete Aktivitäten wie Futterspiele, Nasenarbeit oder leichte körperliche Übungen, die ihn nicht überfordern.
- Positive Erlebnisse: Schaffe viele positive Erlebnisse, um die Welt des Hundes zu erweitern und ihm neue Erfahrungen zu ermöglichen.
- Vermeidung von Überforderung: Achte darauf, dass der Hund nicht überfordert wird und gib ihm die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, wenn er gestresst ist.
Was solltest Du bei einem Hund mit Deprivation vermeiden?
- Bestrafung oder Zwang: Aversive Trainingsmethoden oder Bestrafung verstärken die Ängste des Hundes und verschlimmern seine Situation.
- Zwingen in beängstigende Situationen: Setze den Hund nicht in Situationen, die ihm Angst machen. Das führt nur zu noch mehr Stress und kann traumatische Erlebnisse verstärken.
- Verharmlosen: Nimm die Ängste und Unsicherheiten des Hundes ernst und verharmlose sie nicht.
Leben mit einem Hund mit Deprivationssyndrom
Das Leben mit einem Hund, der an einem Deprivationssyndrom leidet, kann herausfordernd sein, aber mit der richtigen Einstellung und viel Geduld ist es möglich, ihm zu einem glücklicheren Leben zu verhelfen.
Es ist wichtig, realistische Erwartungen zu haben und zu akzeptieren, dass der Hund möglicherweise nie ein „normaler“ Hund sein wird. Doch mit Geduld und individuellem Umgang ist es möglich, Fortschritte zu erzielen.
Wichtige Punkte für das Zusammenleben mit einem Hund mit Deprivationssyndrom:
- Akzeptanz: Nimm den Hund so an, wie er ist, mit all seinen Stärken und Schwächen.
- Geduld: Die Entwicklung eines Hundes mit Deprivationssyndrom braucht Zeit. Kleine Schritte führen langsam zum Ziel, große Schritte hingegen gar nicht.
- Individuelle Bedürfnisse: Jeder Hund hat andere Bedürfnisse. Beobachte deinen Hund genau und passe den Umgang und das Training an.
- Freude an Fortschritten: Feiere jeden kleinen Fortschritt und fokussiere dich auf die positiven Entwicklungen.
Deprivation & Trauma: Wenn die Vergangenheit den Hund prägt
Hunde mit Deprivationssyndrom sind häufig auch von traumatischen Erlebnissen betroffen. Die fehlende Sozialisation und die schlechten Umstände in der frühen Phase ihres Lebens können die Grundlage für ein tief sitzendes Trauma und Traumafolgestörungen bilden.
Wenn Hunde von Geburt an in isolierten, stressigen oder sogar missbräuchlichen Umgebungen aufwachsen, prägt das ihre Fähigkeit, mit Stress umzugehen und sich an neue Situationen zu gewöhnen. Diese Hunde sind häufig extrem ängstlich und überfordert, da sie keine positiven Erfahrungen machen durften, die sie mit Sicherheit und Vertrauen in die Welt verbinden könnten.
Ein Trauma kann daher auch die Art und Weise beeinflussen, wie der Hund mit alltäglichen Herausforderungen und Interaktionen umgeht – er reagiert möglicherweise übermäßig vorsichtig oder ist völlig überfordert mit neuen Menschen, Tieren oder Umwelteinflüssen.
Die Traumafolgen bei Hunden sind tiefgründig und können viele Jahre nach der Erfahrung nachwirken. Ein Hund mit einem Trauma benötigt eine besonders einfühlsame und geduldige Betreuung. Wichtig ist, ihm eine sichere und stressfreie Umgebung zu bieten, in der er in seinem eigenen Tempo lernen kann, mit seinen Ängsten und Erinnerungen umzugehen.
Fazit: Ein Leben in kleinen Schritten
Ein Deprivationssyndrom ist eine komplexe Verhaltensstörung, die durch einen Mangel an wichtigen Reizen und Erfahrungen in der frühen Entwicklungsphase des Hundes entsteht. Die Symptome reichen von Angst und Unsicherheit bis hin zu Hyperaktivität und Aggression.
Mit viel Geduld, Verständnis und der richtigen Unterstützung können Hunde mit Deprivationssyndrom jedoch zu einem glücklicheren Leben finden. Dabei ist es wichtig, ihre individuellen Bedürfnisse zu erkennen und durch positive Erlebnisse, angepasste Beschäftigung und Verzicht auf Bestrafung und Zwang eine Veränderung zu ermöglichen.

Daniela Loibl MBA MSc
Hundeverhaltensberaterin & verhaltensmedizinische Tierpsychologin. Und Mama von Happy, einem ehem. Kettenhund aus dem Tierschutz mit komplexer PTBS und Deprivationssyndrom. Mein größter Lehrmeister und Entschleuniger.