Psychopharmaka für Hunde
Heute möchte ich ein sensibles und oftmals auch verpöntes Thema ansprechen. Nämlich den Einsatz von Psychopharmaka bei Hunden. Es gibt viele falsche Annahmen und Aussagen und auch die Scham, zum Medikament für den Hund zu greifen, ist oftmals riesengroß. Viele Hundehalter lehnen den Einsatz von Psychopharmaka von vornherein ab, ohne sich damit im Detail befasst zu haben. Manche haben auch bereits schlechte Erfahrungen gemacht.
Bevor mein Happy bei mir einzog, war ich mit dem Thema auch nicht vertraut. Und habe anfangs ähnlich ablehnend reagiert. Doch manche Hunde und ihre Lebensgeschichten machen es notwendig, alte Glaubenssätze und Meinungen zu hinterfragen und ggf. über den Haufen zu werfen.
Denn Happy – der nach 7 Jahren Isolation und Gewalterfahrungen bei mir einzog – brachte jede Menge Verhaltensprobleme mit in sein neues Zuhause, die nicht nur ihn, sondern auch mich an den Rand der Belastbarkeit brachten.
Heute weiß ich, dass Happy schwer traumatisiert ist und an Posttraumatischer Belastungsstörung leidet (PTBS). Ich habe mich lange gegen den Einsatz von Psychopharmaka gewehrt: “Der braucht das nicht! Ich hab’ doch so viel Fachwissen! Das schaffen wir auch ohne!”.
Und auch mein Umfeld war diesbezüglich nicht gerade unterstützend und positiv eingestellt. Im Freundeskreis bin ich auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen: “Spinnst du, du willst deinem Hund Psychopharmaka geben? Du bist doch Trainerin …?”. Im beruflichen Umfeld von geschätzten Kolleginnen wurde mir des Öfteren versichert, dass wir das mit Training alleine hinkriegen und ich mich einfach ein paar Jahre gedulden soll.
Doch nach 2 Jahren Zusammenleben konnte ich nicht mehr und wollte für uns beide mehr Lebensqualität.
Heute habe ich eine andere Meinung zum Einsatz von Psychopharmaka und möchte es persönlich mit meinem Hund nicht mehr missen. Ich würde sogar sagen, ein früherer Einsatz der Medikamente hätte uns einiges erspart. Ja ja, hätte, hätte, Fahrradkette …
Allerdings kann ich nun auf einen großen Erfahrungsschatz zurückgreifen, wenn es um die Bearbeitung von Traumata und Ängsten bei Hunden geht. Denn in diesem Kontext bekommt kleinschrittiges Training nochmals eine andere Bedeutung.
Vieles, was im Training mit nicht belasteten Hunden funktioniert, klappt mit traumatisierten Hunde nicht. Die Herangehensweise an Training ist oftmals eine völlig andere. Außerdem ist mir klar geworden, dass positives Training alleine absolut nicht ausreicht. Eine bedürfnisorientierte Alltagsgestaltung ist das Um und Auf für belastete Hunde. Und zwar nicht nur für jene, die ein Fall für den Verhaltensmediziner sind.
Nun soll es in diesem Artikel nicht nur um meine persönliche Meinung und Erfahrungen gehen, sondern einen neutralen und fachlich umfassenden Blick auf das Thema liefern. Deswegen habe ich Dr. med. vet. Lydia Pratsch zum Gespräch gebeten.
Lydia ist eine erfahrene Verhaltensmedizinerin aus Wien (www.tierverhaltenspraxis.at). Sie arbeitet täglich mit verhaltensauffälligen Hunden und Katzen sowie deren Bezugspersonen.
Bevor wir ins Thema einsteigen, müssen wir einmal definieren, was wir aus fachlicher Sicht unter “Verhaltensauffälligkeiten” verstehen. Denn nicht jeder Hund, der an der Leine zieht oder Artgenossen verbellt, ist per Definition verhaltensauffällig.
Wann gilt ein Hund als verhaltensauffällig?
Kläfft der Nachbarshund stundenlang am Gartenzaun, könnte man schon meinen, der wäre verhaltensauffällig. Zieht der Hund wie wild an der Leine oder verpöbelt Artgenossen, sind die Rufe nach einer “ordentlichen Erziehung” ganz laut. Zerstört der Hund daheim die Wohnung, sobald er alleine gelassen wird, wird er als ungezogen oder aufmüpfig abgestempelt. Drückt sich der Angsthund in die Ecke und will auf keinen Fall rausgehen, schreien die Ersten ganz laut, er solle sich nicht so anstellen.
In welchem dieser Fälle man von “verhaltensauffällig” sprechen kann, lässt sich ohne Anamnese nicht beantworten. Aber doch haben alle genannten Verhaltensweisen einen gemeinsamen Nenner: Der Hund ist überfordert. Und benötigt Unterstützung.
Ob im Rahmen von menschlicher Zuwendung durch die Bezugsperson, durch sinnvolles Management, durch bedürfnisorientiertes Training oder durch medizinische Hilfe, gilt es im Individualfall zu entscheiden. Oftmals ist es auch eine Kombination aus mehreren Maßnahmen.
Die Verhaltensbiologie klassifiziert Verhalten in folgenden 3 Kategorien:
- Normalverhalten
Normalverhalten umfasst artgerechte Verhaltensweisen, die der Selbsterhaltung, Fortpflanzung oder dem Ausüben normaler Bedürfnisse dienen und situationsangemessen sind. Es ist das natürliche Verhaltensrepertoire eines Hundes, das ihm hilft, in seiner Umwelt zu überleben und zu interagieren. - Problemverhalten
Problemverhalten beschreibt unerwünschtes Verhalten, aber noch im Rahmen des Normalverhalten, das oft durch Frust, Überforderung oder Stress entsteht. Es ist meistens ein erlerntes Verhalten. Vom Hundehalter und dem Umfeld als störend empfunden, für den Hund ist es eine wirksame Strategie. - Verhaltensstörung
Eine Verhaltensstörung ist ein vom Normalverhalten deutlich abweichendes Verhalten, das wiederkehrend auftritt, die Anpassungsfähigkeit des Hundes überfordert und oft mit Leidensdruck für Hunde und Hundehalter verbunden ist. Verhaltensstörungen beeinträchtigen die Lebensqualität des Hundes erheblich und können auf zugrunde liegende medizinische oder psychische Probleme hinweisen.
Gründe für eine Verhaltensauffälligkeit sind vielfältig und müssen in einer detaillierten Anamnese herausgefunden werden. Es kann sich dabei um traumatische Erlebnisse, medizinische Probleme, psychische Probleme oder chronischen Stress handeln. Auch Schmerzen oder Krankheit können Verhalten negativ beeinflussen.
Wir müssen als Trainer und Therapeuten zwischen Problemverhalten und Verhaltensstörungen unterscheiden, da sie unterschiedliche Ursachen und Behandlungsansätze erfordern. Ein alleiniges „Wegtrainieren“ von störendem Verhalten bzw. ausschließliches Konditionieren von neuem Verhalten ist hier meist nicht ausreichend und zielführend.
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Normalverhalten umfasst, was Hunde von Natur aus tun. Wenn dieses Verhalten in bestimmten Situationen zu Konflikten führt, sprechen wir von Problemverhalten. Doch wenn das Verhalten des Hundes eine erhebliche Belastung für ihn selbst oder seine Familie darstellt, handelt es sich um eine Verhaltensstörung, die oft eine professionelle Behandlung benötigt.
Verhaltensmediziner für Hunde: Experten für psychisches Wohlbefinden
Der Begriff “Verhaltensmedizin” ist vielen Hundemenschen noch nicht geläufig. Ein Verhaltensmediziner für Hunde ist ein spezialisierter Tierarzt, der sich mit Verhaltensproblemen bei Hunden befasst. Während ein klassischer Tierarzt körperliche Erkrankungen behandelt, konzentriert sich der Verhaltensmediziner auf psychische Belastungen wie Angst, Aggression, Trennungsstress oder zwanghaftes Verhalten.
Durch eine ausführliche Analyse – oft bestehend aus Gesprächen, Verhaltensbeobachtungen und eventuell vorliegenden Befunden – entwickelt er individuelle Therapiepläne. Diese können gezielte Trainingstechniken, Verhaltensanpassungen im Alltag oder in bestimmten Fällen auch eine medikamentöse Unterstützung umfassen.
Ziel ist es, das Wohlbefinden des Hundes nachhaltig zu verbessern und das Zusammenleben mit seinen Menschen zu harmonisieren.
Doch nicht jeder Hund ist gleich ein Fall für den Verhaltensmediziner. Ist jedoch mit gutem Training und Management wenig Fortschritt erkennbar, waren die Belastungen in der Vergangenheit extrem oder ist das Lebensumfeld für den Hund nicht optimal, kommt man mit normalem Training sehr schnell an die Grenzen.
Lydia, was sind die häufigsten Probleme, warum du als Verhaltensmedizinerin kontaktiert wirst?
Die meisten meiner Patienten sind Hunde mit ausgeprägten Angststörungen. Diese zeigen sich zum Beispiel durch Meideverhalten, Flucht oder auch reaktive bis aggressive Reaktionen. In solchen Fällen reicht oft selbst ein sehr gutes Training nicht aus. Ein Grund dafür ist, dass starke Angst das Lernen blockieren kann.
Auch Hunde, die sehr schnell oder heftig reagieren, gehören zu meinen Patienten. Manche zeigen sogar stark aggressives Verhalten. Sie stehen oft unter so großer innerer Anspannung, dass sie im Alltag nicht mehr lernen oder angemessen reagieren können.
Dann gibt es noch Hunde, bei denen vermutet wird, dass körperliche Ursachen hinter dem Verhalten stecken – etwa Schmerzen oder andere gesundheitliche Probleme.
Bedeutet das, jeder Angsthund sollte Medikamente bekommen?
Nein, nicht unbedingt. Ob eine medikamentöse Behandlung sinnvoll ist, hängt von vielen Faktoren ab. Deshalb ist eine sorgfältige Ursachenforschung wichtig.
Dabei geht es um Fragen wie:
- Welche Auslöser gibt es für das problematische Verhalten?
- Wie intensiv zeigt sich das Verhalten?
- Wie sehr leidet der Hund darunter – und wie sehr der Mensch an seiner Seite?
- Gibt es Hinweise aus der Vorgeschichte des Hundes, die das Verhalten erklären könnten?
- Könnten gesundheitliche Faktoren wie Schmerzen, Magen-/Darm-Erkrankungen oder orthopädische Probleme das Verhalten beeinflussen?
In der Praxis zeigt sich häufig, dass vorgestellte Hunde mehrere Probleme aufweisen. So kann beispielsweise ein ängstlicher oder reaktiver Hund aufgrund körperlicher Beschwerden oder Schmerzen verstärkte Verhaltensreaktionen zeigen.
Wann sollte man einen Verhaltensmediziner hinzuzuziehen? Lässt sich das pauschal sagen?
Das lässt sich nicht pauschal sagen. Es kommt immer auf das Gesamtbild an. Wichtig ist, wie sich das Verhaltensproblem entwickelt hat und in welchem Umfeld der Hund lebt bzw. wie die individuelle Lebenssituation ist.
Ein Hund in ländlicher Umgebung mit Garten kann durch weniger Reize und mehr Rückzugsmöglichkeiten entlastet werden. Ein Hund in der Stadt ist dagegen schon beim Verlassen der Wohnung vielen Reizen ausgesetzt. Das macht Lernen schwerer, weil Angst und Stress allgegenwärtig sind.
Auch der Mensch spielt eine wichtige Rolle: Wenn die Belastung so groß wird, dass Überforderung, Abgabe oder sogar der Gedanke an Euthanasie aufkommt, sollte unbedingt professionelle Hilfe geholt werden.
Wenn ich nun als Hundehalter die Vermutung habe, dass mein Hund Hilfe braucht - darf ich mich direkt an einen Verhaltensmediziner wenden? Oder darf nur ein Hundetrainer oder Tierarzt mit dir Kontakt aufnehmen?
Jeder Hundehalter kann direkt Kontakt zu mir aufnehmen. Viele kommen über Empfehlungen von Hundetrainern zu mir, mit denen ich eng zusammenarbeite. Andere werden vom Tierarzt überwiesen oder finden mich über das Internet.
Wichtig ist aber: Medikamente sind keine Wundepille. Sie können unterstützen, ersetzen aber kein tierschutzkonformes Training und gutes Alltagsmanagement.
Welche Arten von Psychopharmaka gibt es und wie wirken diese?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten die Medikamente einzuteilen, zum Beispiel nach Medikamentenklasse oder Anwendungsdauer.
Für eine Langzeitbehandlung nutzen wir vor allem sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs). Diese Medikamente erhöhen den Serotoninspiegel im Gehirn. Serotonin ist ein Botenstoff, der das emotionale Erleben beeinflusst: Es wirkt stimmungsaufhellend, angstlindernd und kann auch den reaktives Verhalten verbessern. Allerdings brauchen SSRIs mehrere Wochen, bis ihre volle Wirkung einsetzt. Die Dosis wird zu Beginn langsam gesteigert, um Nebenwirkungen zu minimieren.
Neben SSRIs gibt es weitere Wirkstoffklassen, die nicht direkt auf den Serotoninspiegel wirken. Manche dieser Medikamente beeinflussen die Reizweiterleitung im Nervensystem, indem sie die Erregbarkeit von Nervenzellen verringern. Sie kommen zum Beispiel auch bei neuropathischen Schmerzen zum Einsatz und können sehr hilfreich sein, wenn eine Schmerzkomponente vermutet wird.
Für kurzfristige Belastungssituationen wie Silvester, Autofahrten oder Tierarztbesuche gibt es Medikamente, die sehr schnell wirken – oft schon nach 30 Minuten. Diese Mittel können dem Hund helfen, solche Ereignisse besser zu bewältigen.
Die unterschiedlichen Medikamente lassen sich – je nach individueller Situation – auch kombinieren. Das erkläre ich weiter unten noch genauer.
In der Verhaltensmedizin gibt es ja nicht ein einziges Medikament gegen alles. Wie wählst du aus, welche Therapie der Hund benötigt?
Die Auswahl des passenden Medikaments ist sehr individuell. Ich beginne immer mit einer gründlichen Anamnese: Zeigt der Hund eher gehemmt-ängstliches Verhalten oder neigt er zu impulsiven, reaktiven Reaktionen? Liegen Hinweise auf chronische Schmerzen vor? Gibt es bereits bekannte Vorerkrankungen, die berücksichtigt werden müssen?
Außerdem schaue ich auf die Lebenssituation des Hundes: Lebt er in einem sehr reizarmen oder sehr stressreichen Umfeld? Hat der Mensch an seiner Seite die Möglichkeit, Veränderungen im Alltag umzusetzen? Auch das hat Einfluss auf die Wahl des Medikaments.
Ebenso wichtig ist das Nebenwirkungsprofil. Wenn ein Hund zum Beispiel schon unter Appetitmangel leidet, wähle ich ein Medikament, das eher appetitanregend wirkt – und keines, das den Appetit zusätzlich dämpfen könnte.
Ziel ist immer, ein Präparat zu finden, das gut verträglich ist und die gewünschte Wirkung mit möglichst wenig Nebenwirkungen erzielt.
Es werden öfter mehrere Medikamente miteinander kombiniert. Warum macht man das?
In bestimmten Situationen ist es sinnvoll, verschiedene Medikamente miteinander zu kombinieren. Ein häufiger Grund ist der verzögerte Wirkungseintritt der SSRIs: Da diese Medikamente erst nach einigen Wochen ihre volle Wirkung entfalten, kann in der Zwischenzeit ein schnell wirkendes Medikament helfen, den Hund in akuten Stressphasen zu stabilisieren.
Auch wenn ein einzelnes Präparat nicht ausreichend wirkt, kann eine Kombination verschiedener Wirkmechanismen hilfreich sein – etwa bei Hunden, die sowohl unter generalisierter Angst als auch unter spezifischen Problemen wie Geräuschangst oder Tierarztphobie leiden.
Wichtig ist dabei eine sorgfältige Auswahl und Dosierung, damit sich die Medikamente sinnvoll ergänzen und keine unerwünschten Wechselwirkungen auftreten.
Sind Hunde im städtischen Bereich stärker belastet bzw. öfter belastet?
Ja, das lässt sich ganz klar sagen. In der Stadt sind Hunde meist viel mehr Reizen ausgesetzt als in ländlichen Gebieten: Geräusche, Menschenmengen, Verkehr, viele fremde Hunde – das alles kann belastend sein. Viele meiner Patienten würden ihre Verhaltensprobleme vermutlich nicht zum Ausdruck bringen, wenn sie in einer ruhigeren Umgebung leben würden.
Einige Halter entscheiden sich daher bewusst, das Lebensumfeld ihres Hundes zu verändern – zum Beispiel durch regelmäßige Ausflüge ins Grüne oder sogar durch einen Umzug in eine ruhigere Gegend. Solche Maßnahmen können eine große Erleichterung bringen, sowohl für den Hund als auch für den Menschen an seiner Seite.
Aber nicht jeder Hund profitiert automatisch von weniger Reizen. Manche Hunde, die in ländlichen Regionen leben, zeigen trotz reizärmerem Umfeld starke Ängste. Gerade bei diesen Hunden wird das Leiden oft weniger sichtbar, weil sie im Alltag weniger gefordert sind – ihre Lebensqualität ist dennoch stark eingeschränkt.
Besonders belastet sind Hunde, die in ständiger Alarmbereitschaft (Hypervigilanz) leben, deren Ängste vom Umfeld aber nicht erkannt oder ernst genommen werden. Wenn solche Hunde täglich in überfordernde Situationen gebracht werden, kann das trotz medikamentöser Unterstützung langfristig zu einer weiteren Traumatisierung führen. In solchen Fällen ist es essenziell, nicht nur das Verhalten zu behandeln, sondern auch das Umfeld entsprechend anzupassen.
Womit wir wieder beim Thema sind, dass diese Hunde auf jeden Fall zusätzliche Unterstützung in Form von Psychopharmaka bekommen sollten. Wie sieht das eigentlich aus, haben Psychopharmaka Nebenwirkungen?
- Müdigkeit
- ein leicht wackeliger Gang
- reduzierte Aktivität oder leichte Teilnahmslosigkeit zu Beginn der Therapie
Wie wird sichergestellt, dass das Medikament gut vertragen wird?
Vor Beginn einer Therapie lasse ich in der Regel ein aktuelles Blutbild erstellen. Dadurch bekommen wir einen Überblick über Leber- und Nierenwerte. Auch während der laufenden Behandlung kontrollieren wir regelmäßig, wie der Hund auf das Medikament reagiert.
Wichtig: Auch wenn einzelne Blutwerte leicht erhöht sind, bedeutet das nicht automatisch, dass keine Behandlung möglich ist. Gerade Hunde mit chronischem Stress oder Schmerz brauchen oft besonders dringend Hilfe – auch medikamentös.
In der Humanmedizin kennt man bestimmte Medikamente, die abhängig machen können. Das wirft natürlich auch die Frage auf: Können Psychopharmaka den Hund süchtig machen?
Die kurze Antwort: Nein, diese Sorge muss man nicht haben. Alle Medikamente, die längerfristig eingesetzt werden, werden grundsätzlich langsam und schrittweise wieder ausgeschlichen – genau wie beim Menschen. So lässt sich vermeiden, dass es zu Rückfällen kommt oder der Organismus überfordert wird.
Gerade bei Medikamenten wie SSRIs, die wir in der Langzeitbehandlung verwenden, ist der ganze Prozess sehr behutsam. Es dauert ohnehin etwa zwei bis drei Monate, bis die passende Dosis gefunden ist. Danach beginnt die Phase, in der sich neues Verhalten entwickeln und festigen kann. Erst wenn sich das Verhalten über längere Zeit stabil zeigt, prüfen wir: Wird das Medikament überhaupt noch benötigt?
Das funktioniert nur über einen schrittweisen Absetzversuch. Die Dosis wird langsam reduziert – über Wochen oder auch Monate – je nachdem, wie lange das Medikament schon gegeben wurde. Solche Therapien dauern in der Regel mindestens ein halbes Jahr bis ein Jahr oder länger.
Wenn sich das Verhalten bei geringerer Dosis nicht verändert, können wir weiter reduzieren. Wird das Verhalten wieder schlechter, zeigt das, dass das Medikament aktuell noch gebraucht wird. Dann führen wir die Behandlung fort und prüfen zu einem späteren Zeitpunkt erneut, ob eine Reduktion möglich ist.
Was das Thema „Sucht“ betrifft: Aus der Humanmedizin kennen wir Benzodiazepine – eine Medikamentengruppe mit Abhängigkeitspotenzial. Auch in der Tiermedizin setzen wir sie ein, allerdings primär nicht als Dauermedikation, sondern situationsbezogen.
Selbst bei Hunden, die Benzodiazepine über einen längeren Zeitraum erhalten haben, war das Ausschleichen bisher problemlos möglich. Voraussetzung ist – wie immer – ein langsames Vorgehen: Die Dosis wird in kleinen Schritten reduziert, damit sich der Körper gut anpassen kann. Dieses Vorgehen ist identisch mit dem in der Humanmedizin.
Und noch etwas Wichtiges: Beim Menschen gibt es neben der körperlichen auch eine psychische Abhängigkeit, also das bewusste Bedürfnis, eine Tablette zu nehmen, um sich besser zu fühlen. Diese Komponente gibt es beim Hund nicht.
Ein Hund denkt nicht: „Heute fühle ich mich schlecht, ich nehme lieber eine ganze Tablette statt einer halben.“ Er weiß nicht, dass er ein Medikament bekommt – das liegt in der Hand des Menschen. Das bedeutet auch: Er verknüpft sein Wohlbefinden nicht mit der Medikamentengabe. Und genau das ist ein großer Vorteil in der tiermedizinischen Behandlung.
Wenn ich bei Hundehaltern mit schwer belasteten Hunden den Einsatz von Psychopharmaka anspreche, wird mir meistens geantwortet: “Nein, ich betäube meinen Hund garantiert nicht!”. Offensichtlich ist die allgemeine Vorstellung, dass ein Hund unter dem Einsatz von Psychopharmaka nichts mehr mitbekommt und nur mehr apathisch in der Ecke liegt. Woher kommt diese Annahme?
Es gibt einen Wirkstoff namens Acepromazin, der früher in der Tiermedizin relativ häufig bei Geräuschangst – zum Beispiel an Silvester – eingesetzt wurde. Heute wissen wir, dass dieser Wirkstoff keinerlei angstlösende Wirkung hat. Er macht die Hunde lediglich körperlich ruhig – sie können sich nicht mehr bewegen, nicht flüchten, nicht ausdrücken. Aber sie nehmen alles weiter wahr, sind weiterhin ängstlich und teils sogar noch empfindlicher auf Geräusche.
Das ist natürlich fatal – denn genau das wollen wir bei Geräuschangst gerade nicht erreichen. Ziel ist niemals, dass ein Hund betäubt wird. Deshalb wird Acepromazin in der modernen Verhaltensmedizin auch nicht als Monopräparat eingesetzt.
Bei dieser Frage ist es wichtig, nochmal auf das Thema Nebenwirkungen zurückzukommen: Ja, es kann Nebenwirkungen geben – wie bei jedem Medikament. Die Frage ist dann: Waren die Nebenwirkungen erwartbar? War die Auswahl des Medikaments wirklich passend? Hätte man etwas anders dosieren oder ein anderes Präparat wählen müssen?
In meiner Praxis kommt es auch vor, dass Halter das Präparat kennen, das ich vorschlage – weil sie es selbst schon einmal eingenommen haben. Wenn sie damit schlechte Erfahrungen gemacht haben, schließen sie oft automatisch darauf, dass ihr Hund genauso reagieren wird. Umgekehrt ist es genauso: Wer selbst positive Erfahrungen gemacht hat, ist meist viel offener.
Aber: Der Erfolg einer Verhaltenstherapie mit medikamentöser Unterstützung hängt nicht allein vom Wirkstoff ab. Entscheidend ist auch, wie engmaschig der Hund und seine Bezugsperson begleitet werden. Es geht um die richtige Einschätzung, die passende Herangehensweise, die Erfahrung – und ganz wichtig: um regelmäßige Rückmeldung.
Ein Medikament einfach zu verschreiben mit „Geben Sie das bitte täglich.“ – das funktioniert nicht. Es braucht Aufklärung, Begleitung und die Möglichkeit, Fragen zu stellen und Veränderungen zu besprechen. Denn nur dann kann man rechtzeitig reagieren, wenn etwas nicht passt – sei es, dass die Wirkung ausbleibt, Nebenwirkungen auftreten oder eine Dosierungsanpassung nötig ist.
Statt das Medikament vorschnell in Frage zu stellen, lohnt es sich zu prüfen: War es vielleicht nicht das passende Präparat? War die Dosierung zu niedrig oder zu hoch? Braucht es ein zweites Medikament zur Unterstützung?
Ein Punkt ist mir noch besonders wichtig – weil ich in der Praxis sehr häufig danach gefragt werde:
Psychopharmaka verändern nicht die Persönlichkeit eines Hundes. Viele Menschen fürchten, dass ihr Hund danach nicht mehr „er selbst“ ist, seine Lebensfreude verliert oder weniger lebendig wirkt. Diese Sorge ist unbegründet.
Ein gut eingestellter Hund in einem passenden Umfeld ist nicht von einem Hund ohne Medikamente zu unterscheiden: Er spielt, tobt, freut sich, ist fröhlich – wie jeder andere Hund auch.
Was sich aber im Laufe der Therapie zeigen sollte, ist eine Reduktion der Angst. Die Angst verschwindet nicht komplett, aber sie wird so weit reduziert, dass der Hund wieder aufnahmefähig wird – und so mit Hilfe von Training und Verhaltensmodifikation neue Erfahrungen machen und positive Verknüpfungen aufbauen kann. Das schafft langfristig echte Veränderung: Das Positive tritt in den Vordergrund, und das Negative verliert an Gewicht.
Eine abschließende Frage: Sind Psychopharmaka die Lösung für alle Verhaltensprobleme?
Nein, es gibt keine Wunderpille für Verhaltensprobleme. Strukturiertes Management, fundiertes tierschutzkonformes Training, achtsame Hundemenschen und ein unterstützendes Umfeld sind Grundvoraussetzung, damit Psychopharmaka ihre volle Wirkung entfalten können.
—
Liebe Lydia, vielen Dank für deine Zeit und den Einblick in deine Arbeit als Verhaltensmedizinerin. Ich denke, man bekommt einen guten Überblick über Einsatz und Wirkweise von Psychopharmaka. Und ich hoffe auch, dass wir mit einigen Mythen und Halbwahrheiten aufgeräumt haben.
Jeder Hund ist anders, jede Lebenssituation ist anders und so auch die Gestaltung der passenden Medikation mitsamt der weiteren Maßnahmen wie Management, Training und Alltagsgestaltung. Daher haben wir bewusst auf die namentliche Nennung von Medikamenten verzichtet, da der Einsatz von Psychopharmaka ein sehr individueller ist.
Es gibt eben Hunde, die aus unterschiedlichen Gründen stark belastet sind. Alle Hunde, aber vor allem Hunde mit besonderen Bedürfnissen, verlangen nach einem bedürfnisorientierten Umgang. Denn wenn Bedürfnisgläser leer sind, darf man sich nicht wundern, wenn sich Wohlbefinden nicht einstellt. Und „sich sicher fühlen“ ist eines der Grundbedürfnisse und essentiell für Lebensqualität.
Weiterführende Links:

Daniela Loibl
Hundeverhaltensberaterin & verhaltensmedizinische Tierpsychologin. Und Mama von Happy, einem ehem. Kettenhund aus dem Tierschutz mit komplexer PTBS und Deprivationssyndrom. Mein größter Lehrmeister und Entschleuniger.
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